Nürnberg. Jedes Jahr erleiden in Deutschland rund 113.000 Menschen einen Herz-Kreislauf-Stillstand, ein Drittel von ihnen ist im erwerbstätigen Alter. In rund 60.000 Fällen wird mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen. 33 Prozent von diesen Patientinnen und Patienten erreichen lebend das Krankenhaus, elf Prozent verlassen es schließlich lebend – nur 5000 davon ohne neurologische Folgen. Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In Sachen Reanimation ist in Deutschland noch viel zu tun.

Eine interdisziplinäre Expertengruppe unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI), des Berufsverbandes Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten e.V. (BDA) sowie dem Deutschen Reanimationsregister hat sich diesem Thema vor zehn Jahren angenommen: Im Rahmen der sogenannten Bad Boller Reanimations- und Notfallgespräche erstellten sie zehn Thesen, die für eine höhere Quote geretteter Menschen nach Herz-Kreislauf-Stillstand sorgen sollten. Nun haben die Experten Bilanz gezogen und ihre Thesen weiterentwickelt – mit eindeutigen Forderungen an die politischen Entscheidungsträger, aber auch an jede und jeden Einzelnen.

Zunächst erweiterten sie dabei die Begrifflichkeiten: Statt von der allseits bekannten „Rettungskette“ ist nun von der „Überlebenskette“ die Rede. Diese beginnt nicht erst mit der Notfallsituation, sondern nimmt die Prävention eines außerklinischen Herz-Kreislauf-Stillstandes mit auf – und sucht damit den Schulterschluss mit den Hausärztinnen und -ärzten. Mit ihnen beginnt und schließt die Überlebenskette. Zum einen, weil sie die ersten Ansprechpartner der Patienten sind und durch Prävention und Identifikation von Risiken möglicherweise einen plötzlichen Herzstillstand verhindern können. Zum anderen betreuen sie die Patientinnen und Patienten nach einem überlebten Herz-Kreislauf-Stillstand weiter und haben somit eine entscheidende Rolle, das Risiko eines weiteren zu verhindern.

 

Lebensrettung nicht als unangenehme Pflicht wahrnehmen

Der Begriff „Überlebenskette“ schließt nach Meinung der Experten aber auch jede und jeden Einzelnen mit ein. „Lebensrettung darf nicht als unangenehme Pflicht wahrgenommen werden, sondern muss mit Stolz erfüllt und als Teil der persönlichen Handlungsfähigkeiten erlebt werden“, schreiben die Autoren in der anästhesiologischen Fachzeitschrift A&I, in der die zehn Thesen nun veröffentlicht wurden.

Die Politik – auf kommunaler-, Landes- und Bundesebene – müsse die Infrastrukturen dafür schaffen, dass die Fähigkeiten zum Leben retten bereits in der Schule vermittelt werden und in allen Lebensphasen und -bereichen auch im Erwachsenenalter unterstützt und aufrechterhalten werden. Nicht nur deswegen fordern die Experten, dass das Thema in einem nationalen Gesundheitsziel festgeschrieben wird. Als Titel dafür schlagen sie vor: „Herz-Kreislauf-Stillstand: Prävention, strukturierte Behandlung, mehr und besseres Überleben sichern“.

Der Herz-Kreislauf-Stillstand, der auch als plötzlicher Herztod bezeichnet wird, sei in der Regel nicht „plötzlich“ und damit kein schicksalhaftes Ereignis. Er kündige sich oftmals durch bestimmte Symptome an und sei vermeidbar, vor allem, wenn er junge, scheinbar gesunde Personen betrifft. Daher sind beim Update der zehn Thesen bewusst die Früherkennungs- und Präventionsoptionen auch für den außerklinischen Herz-Kreislauf-Stillstand mit aufgenommen worden.

Ebenso wie genetische Prädiktoren. „Die postmortale Aufarbeitung eines plötzlichen Herztodes, aber auch die klinische Aufarbeitung eines überlebten Herz-Kreislauf-Stillstands und die Identifikation einer möglichen ursächlichen genetischen Erkrankung ist daher von zentraler Bedeutung“, schreiben die Autoren und kritisieren: „Gegenwärtig finden die erforderlichen Untersuchungen nach plötzlichem Herz-Kreislauf-Stillstand und erfolgloser Reanimation nur fragmentiert statt, da kein systematischer  Prozess für die regelhafte Durchführung in Deutschland etabliert ist.“

 

Ziel ist, den Überlebenden eine gute Lebensqualität zu ermöglichen

Eine neue These im Rahmen der Überarbeitung nimmt die Patientenperspektive ein – und beschreibt das eigentliche Ziel der Bemühungen aller: mehr Überlebende in einem guten neurologischen Zustand mit einer – aus Patientensicht definierten – guten Lebensqualität zu erhalten. Die Rahmenbedingungen für den Genesungsprozess zählten für die Fachleute daher ebenso zur „Überlebenskette“: Die oft nicht unmittelbar „sichtbaren“ Beeinträchtigungen müssten künftig konsequenter, frühzeitiger und strukturierter im Rahmen von Screeningverfahren erhoben und im Sinne eines patientenzentrierten und ganzheitlichen Versorgungskonzeptes behandelt werden können. Die Reanimations-Experten sehen dabei die Schaffung von „Post-Reanimationsambulanzen“ als den besten Weg dafür.

Sie fordern ebenso, dass die bislang getrennten Welten der Reanimationsversorgung – etwa die Leitstelle am Beginn der Überlebenskette und die Kliniken an deren Ende – zu einer Handlungseinheit zusammenwachsen müssten. Interaktion müsse gefördert, eine offene Kommunikation gewährleistet und Feedbackmechanismen strukturiert werden. All das ist strukturell in Deutschland bislang nicht implementiert. Ebenso wenig wie regelmäßige (Team)-Trainings aller beteiligten Profis und eine einheitliche (Personal)-Struktur aller Leitstellen sowie deren systematische Befähigung zur Reanimationsanleitung von Laien per Telefon.

Eine der durch die Formulierung der zehn Thesen 2014 inzwischen implementierten Errungenschaften ist die Schaffung von speziellen Cardiac Arrest Centern in Kliniken, die eine spezialisierte Krankenhausbehandlung während und nach der Wiederbelebung gewährleisten. In ihrem Thesen-Update betonen die Experten nochmals deren Bedeutung.  Die Behandlung in einem Cardiac Arrest Center ist durch die fachliche Kompetenz, die apparative Ausstattung und die enge interdisziplinäre Kooperation mit einer besseren Überlebensrate sowie einem besseren neurologischen Behandlungsergebnis verbunden, konstatieren sie.

 

Politik auf allen Ebenen in der Pflicht

In zwei weiteren Thesen fordern die Experten ein deutlich größeres Engagement der Politik, die verstärkt Verantwortung für das Qualitätsmanagement im Notfallmedizinsystem übernehmen sollte. Es reiche nicht aus, die Durchführung an verschiedene Akteure zu delegieren und Vorgaben zu machen. In einer modernen, von vielen Akteuren geprägten Versorgungsstruktur sei es die Aufgabe des Auftraggebers – der Städte und Landkreise sowie der Landesministerien – die Qualität des Gesamtsystems zu überwachen. Da dies die Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland betreffe, sehen die Fachleute auch das Bundesgesundheitsministerium und den Gemeinsamen Bundesausschuss in der Pflicht.

Schließlich müssten deutlich größere Anstrengungen in die Reanimationsforschung investiert werden, denn im Gegensatz zu anderen medizinischen Bereichen wie der Tumormedizin konnten hier in den vergangenen Jahrzehnten nur wenige Fortschritte erzielt werden. Die Experten plädieren hier – analog zur nationalen Krebsforschung – für die Etablierung eines Zentrums für Reanimationsforschung, durch das eine durch öffentliche Fördermittel finanzierte dauerhafte multidisziplinäre und multidimensionale Reanimationsforschung möglich sei. Auch das Deutsche Reanimationsregister sollte vergleichbar zum Deutschen Krebsregister öffentlich gefördert und flächendeckend etabliert werden.

Nun setzt die interdisziplinäre Expertengruppe auf die Verantwortung aller Beteiligten: „Die Ideen liegen vor - die Umsetzung geht uns alle an, denn auch die Überlebenskette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied“, schreibt Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner als deren Sprecher.