Bad Boll/Nürnberg. 50 Experten, ein Ziel: die Reanimationsquoten in Deutschland so zu verbessern, dass in Zukunft deutlich mehr Menschen, die einen plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden, überleben – im Optimalfall ohne gravierende Einschränkungen. Zwei Tage lang haben Fachleute unterschiedlichster Profession bei den Bad Boller Reanimations- und Notfallgesprächen dieses Thema in den Mittelpunkt gestellt.
Ausgangspunkt ihres gemeinsamen Engagements war die Formulierung von zehn Thesen für 10.000 Leben im Jahr 2014.
Zum zehnten Jubiläum dieser Zielsetzung haben sie vorab ihre Thesen kritisch überprüft, überarbeitet und erweitert – von der Rettungskette zur Überlebenskette. Nun wurden nach Bad Boll all jene Expertinnen und Experten eingeladen, die entlang dieser Kette arbeiten: Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Rettungsdienste, Leitstellen und Hilfsorganisationen, Verwaltung, Ministerien, Kassenärztliche Vereinigung und Fachverbände.
Ihnen allen ist bewusst: Um die zehn Thesen umzusetzen, braucht es nicht die eine, große Idee. Vielmehr sind es viele kleine Stellschräubchen, an denen gedreht werden kann – und muss. „Wir versorgen die Menschen in Deutschland schon sehr gut, aber es geht noch deutlich besser“, erklärt Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner. Er ist Sprecher der Sektion Notfallmedizin in der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI), Präsidiumsmitglied des Berufsverbandes Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten e.V. (BDA) und Mitglied des Organisationskomitees des Deutschen Reanimationsregisters. Zusammen veranstalten alle drei Organisationen jährlich im Januar die Bad Boller Reanimations- und Notfallgespräche.
Es braucht mehr Protagonisten
„Lange gingen wir beim Herz-Kreislauf-Stillstand von der klassischen Fünferkette aus, beginnend mit dem Notfall über den Ersthelfer, die Leitstelle, Rettungsdienst und Notarzt bis in das Krankenhaus. Hier endete die Kette“, erklärt Gräsner, der als Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein viel Erfahrung mitbringt. Doch um besser zu werden, brauche es mehr Protagonisten. Zusammen wurden daher in Bad Boll weitere Kettenglieder hinzugefügt, die auch die Rehabilitation und Nachbetreuung sowie die Prävention und Genetik umfassen.
„Wir brauchen alle Teile der Rettungskette in perfekter Form, damit sie zur Überlebenskette wird“, so Gräsner. In Vorträgen und Workshops ging es in Bad Boll also um die Frage: Wie kann jedes einzelne der alten und neuen Kettenglieder für sich gestärkt werden und was braucht es, damit alle Kettenglieder optimal ineinandergreifen. Die Ergebnisse waren erstaunlich konkret – und wurden schon während des Treffens in die Verantwortlichkeit einzelner Teilnehmerinnen und Teilnehmer gelegt, die sich in den nächsten Monaten um deren Umsetzung kümmern.
So zum Beispiel plädieren die Expertinnen und Experten für die Schaffung von Post-Reanimationsambulanzen, die als Pendant zu Tumorambulanzen die Nachsorge übernehmen sollen. Immerhin bestätigen die Zahlen, dass in den drei Jahren nach einem überlebten Herz-Kreislauf-Stillstand die Gefahr, einen weiteren zu erleiden, deutlich erhöht ist. In der Post-Reanimationsambulanz könnten somit neben Befragungen und Untersuchungen, die die Gefahr einer erneuten kardialen Notsituation einschätzen sollen, auch Physio-, Ergo- oder Psychotherapieangebote sowie gegebenenfalls genetische Untersuchungen vermittelt werden. Letzteres ist vor allem wichtig, um familiäre Risikofaktoren zu identifizieren. Zusätzlich wären die Post-Reanimationsambulanzen idealer Anknüpfungspunkt für die weitere Versorgung durch die Hausärzte.
Informationsangebote für Angehörige
Auch eine intensivere Angehörigenkommunikation sei nötig. Idee ist hier, Informationsmaterial zu erstellen, in dem alle wichtigen Informationen für Angehörige aufgeführt sind, darunter etwa: Was passiert bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand? Wie ist der Ablauf in der Klinik? Was kann man tun, wenn es auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu Schlafstörungen oder Flashbacks kommt? Zusätzlich soll auch die Kommunikation auf Klinikseite erleichtert werden, indem den behandelnden Krankenhäusern ein Angehörigenleitfaden zur Verfügung gestellt wird.
Eine große Aufgabe bleibt auch in Zukunft, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, damit diejenigen, die im Notfall vor Ort sind, als Ersthelfer wissen, was zu tun ist. Dazu braucht es Aufmerksamkeit für das Thema. „Wieso kennen wir die Zahlen derjenigen, die bei Verkehrsunfällen sterben, aber nicht die derjenigen, die eine Reanimation nicht überleben?“, fragte PD Dr. Jan Wnent, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und ebenfalls Mitglied des Reanimationsregister-Organisationskomitees. Zusätzlich zu der Forderung, Datenerhebungen aller Art zu fördern, wurde vor dem Hintergrund, dass ein Drittel der Betroffenen im erwerbstätigen Alter ist, auch eine komplette wissenschaftliche Ausarbeitung der damit verbundenen volkswirtschaftlichen Kosten angeregt.
Niedrigschwellige Schulungsangebote
Zugleich geht es aber auch um niedrigschwellige Schulungsangebote aller Altersgruppen – angefangen bei den Jüngsten in Kindergarten und Schule bis hin zu regelmäßigen Auffrischungen für Erwachsene. Eine der zahlreichen Ideen: Im Rahmen der verpflichtenden Ganztagsschulbetreuung für Grundschülerinnen und -schüler ab 2026 könnten freie Träger, Medizinstudentinnen und -studenten sowie diejenigen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, mit ins Boot geholt werden. Bei den Erwachsenen könnten außerdem Zivilschutzseminare eine Möglichkeit darstellen, die Kenntnisse zur Reanimation wiederaufzufrischen.
„Die stete Weiterentwicklung der zehn Thesen für 10.000 Leben in den vergangenen zehn Jahren bis hin zu dem nun vorliegenden Update belegt sehr eindrucksvoll, wie wichtig die Reanimations- und Notfallgespräche als Plattform sind“, erklärte DGAI-Präsident Prof. Dr. Benedikt Pannen. Er freue sich sehr, „dass die DGAI gemeinsam mit dem BDA dieses Forum geschaffen hat und auch am Leben erhält.“
BDA-Präsidentin Prof. Dr. Grietje Beck sieht es als „eine unserer Aufgaben, dafür zu sorgen, dass wir extrem gut vernetzt sind und dadurch gut arbeiten können, sowie interdisziplinär dieselben Ziele verfolgen.“ Darum sei es in diesem Jahr in Bad Boll gegangen – mit erstaunlichen Ergebnissen, die in die Praxis überführt werden müssen. Nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich. Denn darüber waren sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig: Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand geht es immer um Leben oder Tod.