Nürnberg. Anlässlich des diesjährigen Welt-Sepsis-Tages, der jährlich am 13. September begangen wird, möchten die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI) sowie der Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten e.V. (BDA) die Öffentlichkeit für die lebensbedrohlichen Gefahren der Sepsis sensibilisieren. Gleichzeitig nutzen die beiden Verbände den Anlass, um auf innovative Forschungsansätze aufmerksam zu machen, die die Behandlung von Sepsis-Patienten erheblich verbessern könnten. Darüber diskutieren Expertinnen und Experten derzeit auch im Rahmen des DGAI Jahreskongresses, der vom 11. bis zum 13. September in Kassel stattfindet.
Eine Sepsis, umgangssprachlich oft als Blutvergiftung bezeichnet, entsteht, wenn die körpereigene Abwehrreaktion auf eine Infektion so stark ausfällt, dass Organe und Gewebe geschädigt werden oder sogar ganz versagen. Legt man die explizit codierten Fälle zugrunde, so erkranken in Deutschland jährlich rund 150.000 Menschen an einer Sepsis, mindestens 60.000 von ihnen sterben daran. Tatsächlich dürfte die Anzahl an Sepsisfällen und -toten jedoch deutlich höher liegen: Von knapp 16,8 Millionen Krankenhausfällen pro Jahr in Deutschland erfüllen mehr als 1,2 Millionen Patienten die Kriterien für eine implizite kodierte Sepsis (Kodierung einer Infektion mit begleitendem Organversagen), wovon schätzungsweise 200.000 an der Erkrankung sterben (Quelle: Fleischmann-Struzek C, Rose N, Reinhart K. Sepsisassoziierte Todesfälle in Deutschland: Charakteristika und regionale Variation. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2022).
„Dieses Missverhältnis verdeutlicht die wahre Unterschätzung des septischen Erkrankungsbildes und macht deutlich, wie dringend ein besseres Verständnis und eine effektivere Behandlung von Sepsis erforderlich sind“, erklärt DGAI-Präsident Prof. Dr. Benedikt Pannen. „Deshalb engagiert sich die DGAI seit Jahren intensiv in der Sepsis-Forschung und hat bereits bedeutende Fortschritte erzielt.“
So konnten über das DGAI-Forschungsnetzwerk TIFOnet zwei große nationale Multicenterstudien zur innovativen Erregerdiagnostik mittels Next Generation Sequencing (NGS) erfolgreich abgeschlossen werden. „In der Intensivmedizin stellt die Sepsis eine extrem kritische Erkrankung dar, die ein schnelles und effektives Eingreifen erfordert“, erläutert Prof. Dr. Thorsten Brenner, Sprecher der Sektion Intensivmedizin innerhalb der DGAI und einer der Studieninitiatoren. „Das neue NGS-Verfahren ermöglicht es uns, kleinste DNA-Spuren der Erreger im Blut hochsensitiv zu detektieren. Dies ist ein bedeutender Fortschritt gegenüber der herkömmlichen kulturellen Anzucht, die oft zu langsam ist und in vielen Fällen den Erreger nicht nachweisen kann.“
Für beide NGS-Projekte konnten kumulative Fördersummen in Höhe von mehr als 3,5 Millionen Euro eingeworben werden, wobei insbesondere das Projekt unter dem Titel „DigiSep-Trial“ eine Innovationsfondsförderung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) erhalten hat. „Diese Förderung ist ein ganz wichtiger Schritt auf dem Weg, die NGS-Diagnostik in die Regelversorgung zu überführen“, betont Prof. Brenner. Das Ziel muss sein, den Erregernachweis bei Sepsis-Patienten präziser und schneller zu machen und damit eine zeitnahe und zielgerichtete Behandlung der Sepsis-auslösenden Infektion zu ermöglichen.
Die Bedeutung dieser Forschung wird auch durch den kürzlich verliehenen Wissenschaftspreis des Stifterverbandes unterstrichen, der mit 50.000 Euro dotiert ist und an ein interdisziplinäres Forschungsteam ging, dem auch Prof. Brenner angehört. Dieser Preis würdigt die innovative Arbeit, die den Grundstein für zukünftige Standards in der Sepsis-Diagnostik legen könnte.
KI und digitaler Zwilling: Ein Blick in die Zukunft der Sepsis-Behandlung
Ein weiterer vielversprechender wissenschaftlicher Ansatz, der die Zukunft der Sepsis-Diagnostik und -Therapie maßgeblich verändern könnte, ist die Entwicklung des sogenannten „digitalen Zwillings“. Diese innovative Methode nutzt Künstliche Intelligenz (KI) und analysiert umfangreiche „Real World Evidence“-Daten, um personalisierte Diagnose- und Therapieansätze zu entwickeln.
„Mit Hilfe von KI und der Entwicklung digitaler Zwillinge können wir für Sepsis-Patienten maßgeschneiderte Therapieansätze entwickeln, die auf der Analyse riesiger Datenmengen basieren“, erläutert Prof. Dr. Gernot Marx, der ab 2025 die Präsidentschaft der DGAI übernehmen wird und Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care an der Uniklinik RWTH Aachen ist. „Diese Technologie bietet das Potenzial, Diagnose- und Behandlungsprozesse erheblich zu beschleunigen und zu individualisieren, was besonders bei einer so schnell voranschreitenden Erkrankung wie der Sepsis von entscheidender Bedeutung ist.“
Der digitale Zwilling eines Patienten ist eine exakte, virtuelle Nachbildung seiner gesundheitlichen Situation. Diese virtuelle Kopie ermöglicht es Ärzten, verschiedene Behandlungsmöglichkeiten in einer simulationsbasierten Umgebung zu testen, bevor sie am echten Patienten angewendet werden. Dies könnte in Zukunft die Therapieergebnisse signifikant verbessern und gleichzeitig die Risiken für die Patienten minimieren.
Qualitätssicherung und politische Initiativen
Neben den Fortschritten in der Forschung sind DGAI und BDA maßgeblich an politischen und strukturellen Verbesserungen in der Sepsis-Versorgung beteiligt. Ein zentraler Meilenstein auf diesem Weg ist die Entwicklung eines bundesweit einheitlichen Qualitätssicherungsverfahrens für die „Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Sepsis“. Im Frühjahr 2024 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) mit der Erstellung einer Spezifikation für dieses Verfahren beauftragt, nachdem eine Machbarkeitsstudie erfolgreich abgeschlossen wurde.
Der Auftrag markiert den Beginn eines umfassenden Prozesses, der darauf abzielt, ein standardisiertes und qualitätsgesichertes Vorgehen zur Behandlung von Sepsis in die Regelversorgung aller Krankenhäuser und Praxen in Deutschland zu integrieren. „Dieses standardisierte Verfahren wird es ermöglichen, die Sepsis-Diagnostik und -Therapie zu harmonisieren und die Behandlungsqualität in Deutschland nachhaltig zu steigern“, betont BDA-Präsidentin Prof. Dr. Grietje Beck. „Indem wir überall dieselben hohen Standards anwenden, können wir die Überlebenschancen für Sepsis-Patienten deutlich verbessern.“
Das gilt in besonderem Maße auch für die Schaffung von sogenannten Intensivzentren, die der G-BA jüngst beschlossen hat. Diese sind durch eine besondere telemedizinische Anbindung peripherer Häuser charakterisiert, womit die Diagnose und Behandlung der Sepsis, auch in kleinen und weniger spezialisierten Kliniken erheblich verbessert werden kann.
Sepsis in der öffentlichen Wahrnehmung stärken
Durch vielfältige Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit versucht die DGAI außerdem, das Bewusstsein für die Sepsis zu schärfen und dieser oft unterschätzten Erkrankung das „Schattendasein“ zu nehmen. Beispielhaft ist dabei das „4. Essener Sepsis-Symposium“, das anlässlich des Welt-Sepsis-Tages am 18. September 2024 unter der wissenschaftlichen Leitung von DGAI-Sektionssprecher Prof. Dr. Brenner stattfinden wird und das aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse beleuchtet, zu nennen. Zudem organisiert die „Sepsis-Akademie“ des Projekts „SepsisDialog“ der anästhesiologischen Kollegen der Universitätsmedizin Greifswald monatliche Webinare, in denen es unter anderem auch um innovative Ansätze geht. So findet zum Beispiel am 13. November 2024 ein derartiges Webinar zum Thema „Personalisierte Sepsisdiagnostik und Sepsistherapie – Eine Frage für die KI?“ statt. Maßgeblich organisiert werden diese Webinare durch PD Dr. Matthias Gründling, ebenfalls Mitglied der DGAI, der in diesem Jahr für seine Verdienste rund um den Themenkomplex Sepsis das Bundesverdienstkreuz erhalten hat.
„Leider sind wir noch nicht an dem Punkt, an dem eine Sepsis ihren Schrecken verloren hat“, warnt der zukünftige DGAI-Präsident Prof. Dr. Gernot Marx. „Doch wir haben bereits wichtige wissenschaftliche und politische Weichen gestellt. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, die Versorgung von Sepsis-Patienten weiter zu verbessern und die Zahl der vermeidbaren Todesfälle zu senken.“
Einen hohen Stellenwert nimmt dabei auch die Überarbeitung der S3-Leitlinie „Sepsis - Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge“ ein, die derzeit unter der Führung der Deutschen Sepsis Gesellschaft (DSG) erfolgt und an der die DGAI maßgeblich beteiligt ist.