Nürnberg. Erstmalig sind für Rettungskräfte in Deutschland Empfehlungen für Katastrophenlagen und Großschadensereignisse mit Mangel an Ressourcen und dysfunktionaler Infrastruktur verfügbar.
In einer Leitliniengruppe gelang es, einen Großteil der wesentlich an der prähospitalen Patientenversorgung beteiligten Berufsgruppen und Fachdisziplinen zu versammeln. Die Gruppe aus Expertinnen und Experten vieler medizinischer Fachgesellschaften, Hilfsorganisationen, Behörden und Verbänden hat sich von 2019 bis 2022 intensiv und systematisch mit Literatur und Erfahrungen beschäftigt. Unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI) wurden dabei katastrophenmedizinische prähospitale Behandlungsleitlinien erarbeitet und konsentiert.
Die Entwicklung der Leitlinien fand im Rahmen eines vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) geförderten Forschungsprojektes der Universitätsmedizin Mainz unter der Koordination von Annika Rohde statt. Sie ist Fachärztin für Anästhesiologie am Kompetenzzentrum für medizinischen Bevölkerungsschutz der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied im wissenschaftlichen Arbeitskreis Notfallmedizin der DGAI.
Ausgangspunkt der Arbeit war, dass es zuvor für die medizinische Versorgung in Katastrophenfällen keine umfassenden Listungen von Therapiestandards gab, aus denen das erforderliche Sanitätsmaterial, darunter die Bedarfsmenge an Arzneimitteln und Medizinprodukten, abgeleitet werden konnte.
Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg selten von Katastrophen oder Ereignissen katastrophalen Ausmaßes getroffen. Allerdings nehmen extreme Naturereignisse zu und auch „menschgemachte Katastrophen“ werden in Europa häufiger bzw. wahrscheinlicher, halten die Autoren fest. Sowohl die Hochwasserlagen nach den Starkregenereignissen im Sommer 2021 als auch die weltpolitische Lage bestätigten daher die Notwendigkeit von Handlungsempfehlungen für Katastrophenmedizin sowie deren Training.
Abkehr von der Individualmedizin im Katastrophenfall
Als Basis der Leitlinie war zunächst eine klare Definition des Begriffes „Katastrophenmedizin“ für die Erarbeitung von Empfehlungen unerlässlich. So definierten die beteiligten Experten: „Katastrophenmedizin ist die medizinische Versorgung in Katastrophen oder Großschadensereignissen mit Mangel an Ressourcen (personell und/oder materiell) und nicht nutzbarer Infrastruktur, bei der von der Individualmedizin abgewichen wird, um das bestmögliche Behandlungsziel für die größtmögliche Anzahl von Patientinnen und Patienten zu erreichen.“
Diese Änderung der medizinischen Strategie unter den vielfältigen Anforderungen und Einflüssen realisieren zu können, erfordere bei allen Einsatzkräften Wissen und Können für die komplexe Lagebewältigung, heißt es in der Leitlinie. Je nach Erfahrungsstand, Vorbereitung und dem Schadensereignis an sich wirke somit eine enorme mentale, physische und psychische Belastung auf die Einsatzkräfte sowie alle exponierten Personen.
Um sie alle besser auf diese Ausnahmesituationen vorzubereiten, sowie die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse aufbereitet und ergänzt durch Expertenwissen zur Verfügung zu stellen, entstand diese Leitlinie.
Insgesamt konnten 192 Empfehlungen zur Behandlung der häufigsten Verletzungen und akuten Erkrankungen in Großschadenslagen wie die lebensbedrohliche Blutung, Weichteil- und Knochenverletzungen, Dyspnoe oder Verbrennungen strukturiert nach dem X-ABCDE-Schema erstellt werden.
Maßnahmen bei chemischer Kontamination einbezogen
Die Leitlinie thematisiert ethische Grundlagen zur Ressourcenverteilung ebenso wie den Sichtungsprozess, die Patientenautonomie sowie notwendige Schnittstellen und Materialien für den Katastrophenfall. Auch die Maßnahmen bei chemischer Kontamination wurden anhand aktueller Literatur und Erfahrungen in die Empfehlungen einbezogen.
Mit den Leitlinienempfehlungen sollen Entscheidungs- und Handlungssicherheit in zukünftigen Einsätzen erhöht werden, um die Patientenversorgung in Katastrophenlagen zu verbessern. Verfügbar ist die Leitlinie in Lang- und Kurzversion bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF).
Die Federführung der Leitlinie lag bei der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI). Auch Bundespolizei und Bundeswehr waren beratend eingebunden. Folgende Fachgesellschaften und Organisationen waren darüber hinaus beteiligt:
Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e. V.,
Akademie für Ethik in der Medizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Verbrennungsmedizin e. V.,
Deutsche Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V.,
Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e. V.,
Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie e. V.,
Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e. V.,
Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands e. V.,
Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V.,
Deutscher Feuerwehrverband e. V.,
Deutsches Rotes Kreuz e. V.,
Malteser Hilfsdienst e. V.,
Johanniter-Unfall-Hilfe e. V.,
Sanitätsdienst der Bundeswehr,
Ökumenische Notfallseelsorge Mainz